Politik Ausland
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Brasilien sperrt „X“
„Zensur-Richter“ gegen Elon Musk – Verdacht der Einschränkung der Meinungsfreiheit
Von Tobias Käufer
Stand: 08:15 UhrLesedauer: 5 Minuten
In Brasilien wurde die Plattform „X“ gesperrt. Weil dem zuständige Obersten Richter eine enge Verbindung zum linksgerichteten Präsidenten Lula da Silva nachgesagt wird, sprechen Kritiker von politischen Motiven. Die ersten Folgen der Entscheidung werden bereits deutlich.
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Der Moment, in dem der Streit zwischen dem obersten Richter Brasiliens, Alexandre de Moraes, und Elon Musk zu eskalieren begann, lässt sich ziemlich genau eingrenzen.
Im April dieses Jahres sagte der ehemalige Präsident Jair Bolsonaro: „Jetzt haben wir sehr starke Unterstützung von außerhalb Brasiliens.“ Der rechtspopulistische Politiker meinte Elon Musk, der sich in Tweets seines Kurznachrichtendienstes „X“ hinter ihn stellte.
Zudem verweigerte Musks Plattform den Behörden, Profile zu blockieren, die behaupteten, der hauchdünne Sieg von Bolsonaros linksgerichtetem Widersacher Lula da Silva bei den Präsidentschaftswahlen 2022 sei durch „Wahlbetrug“ zustande gekommen. Beweise für diese Behauptung gibt es keine. Musk sieht solche Aussagen aber von der Meinungsfreiheit gedeckt.
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Die politische Positionierung Musks, der in den USA auch offen Donald Trump oder in Argentinien Javier Milei unterstützt, löste im Obersten Gericht Brasiliens prompt hektische Betriebsamkeit aus. Das gipfelte nun in der Entscheidung wegen rechtlicher Probleme das Netzwerk „X“ in Brasilien auszuschalten. Begründet wird dies mit der „Nichterfüllung von Auflagen“ der brasilianischen Justiz.
Richter Moraes, der dem Obersten Gerichtshof vorsteht, hat dabei ausdrückliche Rückendeckung durch Präsidenten Lula da Silva, der zugleich Bolsonaros Gegenspieler ist. Der Präsident sagte CNN Brasilien, die Justiz habe ein wichtiges Signal gesetzt, „dass die Welt nicht verpflichtet ist, die rechtsextreme Ideologie von Elon Musk zu dulden, nur weil er reich ist“.
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Kritiker werfen Richter Moraes daher vor, er sei gewissermaßen Lulas verlängerter Arm im Obersten Gerichtshof. Sie führen zudem an, dass Moraes unter anderem nach der Stichwahl im Jahr 2022 einen Widerspruch von Bolsonaro gegen seine Niederlage abgelehnt hatte. Von linken politischen Kräften wird er verehrt wie ein Heiliger. Die rechte Opposition wirft ihm vor, den Boden der Unparteilichkeit verlassen und einer „staatlichen Zensur“ den Boden zu bereiten.
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Der in Brasilien lebende US-Blogger Glenn Greenwald, der in Bolsonaro-Amtszeit Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit aus dessen Lager offenlegte, bezeichnet Moraes inzwischen als „Zensur-Richter“.
Helio Beltrão, Kommentator beim Sender CNN Brasilien und eng mit Bolsonaros ehemaligen Wirtschaftsminister Paulo Guedes verbunden, sagt im Gespräch mit WELT, er rechne mit einer starken Reaktion der Öffentlichkeit. Immerhin seien auch zweiundzwanzig Millionen Brasilianer, die „X“-Konten hätten, durch die Entscheidung des Obersten Gerichts bestraft und „mundtot“ gemacht worden.
Beltrão vermutet, dass Richter Moraes auch ideologische Gründe für seine Entscheidung habe. „Der größte Teil der Linken hat die Zensur und bestimmte Verstöße des Obersten Gerichtshofs gegen die Rechtsstaatlichkeit seit 2019 verteidigt, weil dies geeignet war, ihre Gegner zum Schweigen zu bringen“.
Prognose: „Erstarken der Rechten“
Seine Prognose: Die Folge werde ein „Erstarken der Rechten“ im Land sein, weil der Oberste Gerichtshof im politischen Tauziehen zwischen Links und Rechts nun klar Partei ergriffen habe. Er rechnet deshalb bei den anstehenden Regionalwahlen in wenigen Wochen mit einer wachsenden Zahl von liberalen und konservativen Bürgermeistern und Stadträten. „Und 2026 wird ein noch liberalerer und konservativerer Kongress gewählt werden.“
Während die Plattform „X“ in Diktaturen wie dem Iran, Nordkorea oder China verboten ist, reiht sich mit Brasilien das erste große demokratische Land in die Phalanx jener Nationen ein, die zum drastischsten aller Mittel greift: einer Blockade. Davon sind dann allerdings nicht nur Konten betroffen, die offen Fake News verbreiten, sondern auch jene Nutzer, die mit fundierten, regierungskritischen Tweets Korruption, Umweltzerstörung oder Attacken auf die Meinungsfreiheit in Brasilien anprangern oder auf soziale Ungerechtigkeiten hinweisen.
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Politik-Wissenschaftlerin Graziella Testa von der Universität São Paulo sagte im Gespräch mit WELT dagegen, die Relevanz von „X“ in Brasilien werde überschätzt. „Andere soziale Netzwerke sind viel relevanter und haben viel mehr Nutzer und Menschen, die täglich auf sie zugreifen, sodass wir in Brasilien davon ausgehen, dass Facebook, Instagram und TikTok viel mehr Einfluss haben als das frühere Twitter.“
Weil die Lulas linke Arbeiterpartei PT seit dem Jahr 2003 nur mit der Unterbrechung von Michel Temer (2016 bis 2018) und Bolsonaros Amtszeit von 2018 bis 2022 die Regierung bestimmte, konnte sie maßgeblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs nehmen. Unter anderem installierte Lula dort seinen ehemaligen persönlichen Anwalt Cristiano Zanin oder ihm loyal verbundene Ex-Minister.
Kritiker werfen den Richtern daher vor, Lula zu schonen. Bis heute ist die politische Verantwortung des Präsidenten für die schweren Korruptionsskandale um die brasilianischen Konzerne Petrobras und Odebrecht nicht aufgeklärt. Sie erschütterten das Land, ermöglichten erst Bolsonaros Aufstieg und brachten Lula zwischenzeitlich ins Gefängnis. Seit Lulas erneuter Amtsübernahme aber geraten Anti-Korruption-NGOs wie Transparency International ins Visier der Justiz.
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Für Lula kommt der Streit in einer politisch heiklen Phase, denn längst wird seine jahrelange Nähe zum linksextremen Diktator Nicolás Maduro aus Venezuela zu einer politischen Belastung.
Die Regierung in Brasilia schaut zu, wie der von Lula bis zuletzt unterstützte Maduro derzeit mit brutalsten Mitteln den Wahlsieg der Opposition unterdrückt – und ebenso Netzwerke wie „X“ blockiert. „X“ ermöglicht als eine von wenigen Plattformen eine Dokumentation von schweren Menschenrechtsverletzungen. Inzwischen musste auch die brasilianische Regierung, die eigentlich vermitteln soll, ihre „tiefe Besorgnis“ darüber zum Ausdruck bringen, dass der eigentliche Wahlgewinner Edmundo Gonzalez verhaftet werden soll.
Das Verhalten Lulas in der Venezuela-Krise zu kritisieren, ist über „X“ derzeit nicht mehr möglich. Wer es trotzdem mit technischen Mitteln wie VPN-Tunneln versucht, muss laut brasilianischen Medienberichten mit einem Bußgeld von 50.000 Real (etwa 8000 Euro) pro Tag rechnen.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.